SCHAUKELN IST FITNESS FüR KöRPER UND GEIST – WIR SOLLTEN ES NICHT NUR DEN KINDERN üBERLASSEN

Eine Schaukel! Wir bummelten umher, unsere längst erwachsene Tochter hatte sich zum Geburtstag einen kleinen Ausflug mit ihren Eltern gewünscht. In einem Park stiessen wir plötzlich auf diese Installation, die Begeisterung auslöste: eine Schaukel! Zwei sogar, an einem Holzgestell befestigt.

Die leeren Sitzflächen wirkten wie eine Einladung: Probiert es doch mal! Das taten wir. Es war phantastisch. Es hat Spass gemacht. Gewöhnlich ist es damit gut. Philosophen aber brauchen Gründe. Also fragte ich mich: Warum hat das jetzt Spass gemacht? Natürlich, das Schaukeln ist eine Urerfahrung. Alle Menschen schaukeln schon im Mutterleib. Ausserhalb werden sie auf dem Arm weiter geschaukelt, und kaum können sie laufen, rennen sie auf dem Spielplatz oder im Garten zur Schaukel. Bis in die Pubertät hinein ist Schaukeln angesagt. Und dann? Dann vergessen es die meisten.

Das ist schade, denn Bewegung tut gut und ist gesund. Das Schaukeln beansprucht viele Partien des Körpers von den Nackenmuskeln über Arm-, Rumpf- und Beinmuskulatur bis zu den Fussgelenken. Physiologen und Sportwissenschafterinnen machen darauf aufmerksam, dass Schaukeln eine der besten Fitnessübungen ist, und das noch dazu an der frischen Luft.

Mit der tieferen Atmung erhöht sich der Sauerstoffgehalt im Blut. Die Eltern hatten dafür noch die Arbeit auf dem Misthaufen, heute brauchen Menschen eine Schaukel, um sich in Bewegung zu setzen. Keine Zeit? Diese Fitnessübung ist buchstäblich im Vorübergehen zu absolvieren, 10 Minuten, null Kosten.

Wie gut, dass überall Schaukeln herumstehen. In beliebten Tourismusregionen werden sie für die Wellnessferien neu errichtet, jeweils mit toller Aussicht, beispielsweise im Tessin unter dem Motto Swing the world. Oder im «Land der Schaukeln», wie sich die Gegend um Damüls im Bregenzer Wald nennt. Für den Hausgebrauch steht auch eine reiche Auswahl an Designerschaukeln zur Verfügung.

«Schwingt freudig euch empor» – Johann Sebastian Bach hatte bei der Komposition seiner gleichnamigen Kantate (BWV 36) 1731 eher nicht das Schaukeln im Sinn, aber die gleich zu Anfang aufsteigenden Singstimmen eignen sich bestens auch fürs Brett.

Mal ist die Gelassenheit da, dann wieder weg

Biomaterial-Forscher haben herausgefunden, dass das Anschwingen gegen die Schwerkraft die Knochenfestigkeit stärkt, denn für Knochen gilt: In belasteten Bereichen wird Material angebaut, in entlasteten aber entfernt. Neurobiologen wissen, dass die reichhaltige Beanspruchung des sensorischen Systems beim Schaukeln auch die Hirnaktivität positiv beeinflusst.

Das alles ist vor allem für Heranwachsende von Bedeutung, aber es ist nur auf der analogen Schaukel zu haben, nicht beim bewegungslosen Sitzen vor Bildschirmen. Sinnvoll wäre das Schaukeln also auch, um zwischen dem analogen und dem digitalen Leben hin- und herzupendeln und der Kurzsichtigkeit zu entgehen, die mangels Draussensein bei immer mehr Kindern diagnostiziert wird.

Offenbar steckt sehr viel in dieser scheinbar simplen Tätigkeit. Lässt sich nicht sogar das ganze Leben als ein Hin- und Herschwingen verstehen? Sind die verschiedenen Phasen des Schaukelns nicht auch die Phasen des Lebens? Ja, das Leben ist eine Schaukel. Wer schaukelt, versteht das Leben besser. Nie bleibt es gleich.

Mal ist die Gelassenheit da, dann wieder weg. Mal bin ich sehr selbstbewusst, dann wieder voller Selbstzweifel. Ich suche nach Nähe, um mich nicht verlassen zu fühlen, und brauche wieder Distanz, um mich auf mich zu besinnen. Ich will raus aufs Land, um zur Ruhe zu kommen, dann wieder zurück in die Stadt, um an Dynamik zu gewinnen. Kleine und grössere Feste sind toll, um vom Alltag wegzuschaukeln, bis er wieder willkommen ist, um sich vom festlichen Treiben zu erholen.

Mit dem hin- und herschwingenden Pendel einverstanden zu sein, ist die Voraussetzung für die Kunst, sich des Lebens zu freuen. Eine Veranlagung dazu ist hilfreich, aber die Freude lässt sich auch einüben. Wichtig ist zunächst die Einsicht, dass die Lebensfreude selbst schaukelt.

Es ist unmöglich, sich des Lebens ständig zu freuen. Nicht nur die Anstrengung braucht Erholung, auch die Freude braucht sie, um die Intensität wiederzugewinnen, ohne die das Leben fade wird. Und, ebenso wichtige Frage: Darf man das überhaupt, sich in schwierigen Zeiten trotz allem des Lebens freuen? Aber wann, wenn nicht gerade dann? Woher sonst sollen die Kräfte kommen, das alles zu meistern?

Auch das Geniessen will geübt sein

Und worin besteht die Übung, mit der die Kunst der Lebensfreude zu erwerben ist? Übung heisst Wiederholung eines Verhaltens, um eine Fähigkeit zu verbessern und Abläufe zur Gewohnheit zu machen. Übung verändert Hirnstrukturen. In der Musik ist die Bedeutung von Übungen bestens bekannt, auch im Sport, Training genannt.

Die Methode, mit stetigem Üben das Können zu steigern, hilft bei vielen Freuden. Wer ein guter Freund sein will, sollte sich in Freundesfreuden üben. Wer ein leckeres Essen zubereiten will, muss Kochen üben. Auch das Geniessen als Element der Lebensfreude braucht Übung.

Ich selbst übe mich täglich darin, Espresso zu geniessen. Was soll daran so besonders sein? Reinschütten und fertig! Aber ich schlürfe Molekül für Molekül und interessiere mich für jedes Detail dabei, wie der Kaffee von der Staude in die Tasse kommt. Für einen Doppio schaukle ich morgens raus von zu Hause und rein ins Café, zwei Stunden später zurück, so lange hält der Espresso vor, und ich kann hoch motiviert arbeiten, schon im Café und dann für den Rest des Tages am Schreibtisch.

Die Übung wird in europäischer Tradition auch Askese genannt (griechisch «ἄσκησις», Askesis). Anders als viele glauben, ist die Askese nicht etwa die Feindin der Freude, ganz im Gegenteil. Wer Askese kann, hat mehr vom Leben. Ein Asket kann der grösste Lustmolch sein, weiblich Lustmolchin. Viele Übungen sind Instrumente eines asketischen Hedonismus.

Von Bedeutung können dafür auch die Übungen der Zurückhaltung und des Verzichts sein, die oft allein für Askese gehalten werden. Reinschaukeln in den Genuss, rausschaukeln, Auszeit in Kauf nehmen. Wenn zu viel Kaffee zu einer Übersäuerung des Körpers führt: Ein paar Tage Askese, und die frisch justierten Geschmacksnerven sorgen für mehr Genuss als zuvor. Weniger häufig ein tolles Essen zu geniessen, steigert den Appetit. Weniger oft zusammen zu sein, ist der Freude daran förderlich. Auch so wird Schaukeln zur Kunst der Lebensfreude.

Es ist eine Einübung des richtigen Masses, das sich im Hin und Her zwischen dem Zuviel und Zuwenig einpendelt. Das richtige Mass ist Suffizienz, also das, was genügt (sufficit im Lateinischen), um erfüllt zu sein und sagen zu können: Mehr brauche ich nicht. Nicht das Maximum steht dabei infrage, das zu viel sein kann, sondern das Optimum, das am besten zu mir passt.

Suboptimal sollte das Mass nicht ausfallen, sonst mangelt es an Freude. Völlig übertrieben auch nicht, sonst wächst mit dem Überfluss der Überdruss. Welche Dosis die optimale ist, lässt sich schaukelnd erproben, Selbstoptimierung im besten Sinne. Nur zum Teil hat das richtige Mass mit Quantität zu tun. Weit mehr verdankt es sich der Qualität, die ein Zuwenig, aber kaum ein Zuviel kennt, sei es beim Essen, beim Kaffee oder beim Sex.

Das Leben braucht Tristesse

Unabdingbar ist die Askese des partiellen Verzichts, um mit dem Übermass an Möglichkeiten in der Welt der Moderne zurechtzukommen. Verzichtenkönnen ist das beste Gegenmittel zur Angst, etwas zu verpassen, «Fomo» genannt, Fear of missing out. Nicht nur junge Menschen leiden daran. Wer nicht auswählt, macht sich verrückt.

Das betrifft grosse Fragen wie die Entscheidung für eine Beziehung, um nicht auf zu vielen Hochzeiten zu tanzen, ohne auch nur eine wirklich zu erleben. Vor allem aber betrifft es kleine Fragen im Alltag wie: Was mache ich heute Abend? Ich kann rasch etwas essen gehen, für eine halbe Stunde meinen Freund treffen, zwischendurch ein paar Posts absetzen, bei dieser Party noch kurz vorbeischauen, um zum Schluss zu Hause vor Netflixserien dahinzudösen.

Dann habe ich alles Mögliche getan, aber übrig bleibt ein Gefühl der Leere, denn ich war nirgendwo wirklich dabei. Besser, ich entscheide mich für eines und verzichte auf alles andere, ohne Reue. Aus der Angst wird die Freude, etwas zu verpassen. «Jomo», Joy of missing out, denn so wird das Leben leichter.

Der freudige Zustand profitiert von an den Glückshormonen Serotonin, Dopamin und Noradrenalin und an Endorphinen vollen Speichern. Das lässt sich jedoch nicht auf Dauer stellen. Je grösser die Freude, desto eher werden diese Stoffe verbraucht. Als wäre ein Aus-Schalter betätigt worden, sind die tollen Gefühle plötzlich weg. Es ist wie bei den gegenwärtig relevanten Gasspeichern: volle Speicher, viel Energie für alles. Leere Speicher, keine Energie, für nichts. Die Speicher müssen von neuem aufgefüllt werden.

Im Leben geschieht das ganz von selbst, aber es braucht Zeit, Auszeit genannt, Tristesse, die misslich ist, aber halt akzeptiert werden muss. Was über freudlose Zeiten hinweghilft, ist die Disziplin, die eingeübt wird, eine Form der Askese, um beispielsweise an einer Arbeit dranzubleiben, auch wenn sie momentan «keinen Spass macht».

Es kommen ja wieder andere Zeiten. Schwierigkeiten zu überwinden, wird belohnt von den Freuden der höheren Ebene. Hochschaukeln ist angesagt. Ich muss höchstens aufpassen, es nicht zu sehr zu übertreiben. Begeisterung neigt zum Überschwang, zum Überschlag auf der Schaukel. Aber es ist toll, etwas zu erreichen, auf der Schaukel und auch im wahren Leben. Schwere ist unten. Oben ist Leichtigkeit.

Herrlich ist der Erfolg, eine Prüfung zu bestehen oder auch nur das Teilstück eines Projekts zu bewältigen, erst recht, ein grosses Vorhaben oder eine schwierige Lebenssituation zu meistern. Alle bieten Erfolgsformeln an, ich auch: Folge deiner Faszination. Sie setzt enorme Energien frei und bringt sehr viel Erfüllung mit sich. Aber niemand gelangt auf direktem Weg zum Erfolg. Daher der Rat: Scheue keinen Umweg. Umwege machen klüger. Und die wohl wichtigste Formel, die kaum jemand kennt: Misserfolg. Aus ihm ist viel zu lernen. Auch so schaukelt das Leben.

Pendelbewegung für mehr Zuversicht

Und die Liebe. Sie ist ein Hin- und Herschaukeln zwischen Hochgefühlen und einem Abschwung der Gefühle, bei dem der eine oder die andere sich «verschaukelt» fühlt, wenn es dabei bleibt. Wer schaukeln kann, der kann auch lieben. Füreinander da zu sein, ist schön. Für sich selbst da zu sein, ist die Basis dafür. Das Hin- und Herschaukeln zwischen den Phasen macht es möglich, sich beim Zusammensein zu verausgaben, um sich beim Rückzug auf sich selbst wieder zu erholen.

In allen Beziehungen, auch in Freundschaft und Kollegialität, sorgt diese Pendelbewegung für mehr Zuversicht und Lebensfreude: Zurückzuschaukeln zu sich, um sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken, einige Dinge mit sich zu klären und sich mit sich zu befreunden, das ist Me-Time. Aber das Sichbefassen und die Befreundung mit sich sind nicht dazu da, in zu viel Narzissmus zu versinken, sondern dazu, sich mit aufrichtiger Freude wieder anderen zuwenden zu können, da die nötigen Kräfte dafür frei werden. Das ist You-Time, und dies möglichst für jedes Du einzeln, denn dann ist die Zuwendung am grössten.

Das Dasein erst einmal für sich allein auf der Schaukel ermöglicht, die Gedanken fliegen zu lassen. Es ist die Mussefreude. Das regelmässige Pendeln beruhigt. Der Grund dafür liegt im Gleichgewichtsorgan, dem Vestibularapparat im Innenohr, der von der gleichmässigen Bewegung stimuliert wird. Keine Aufgaben sind zu erledigen, keine Zwecke zu erfüllen, keine Ziele zu erreichen. Nichts muss nützlich sein, alles darf sein, wie es ist. Ich fühle mich in eine Trance versetzt, in der ich mich und meine Umgebung völlig vergesse. Die Sinne sind weit offen, aber ich nehme gar nichts wahr.

Ich bin in Gedanken, und doch bin nicht ich derjenige, der denkt. Es, das Denken, denkt selbst. Es denkt kreuz und quer. Mein Beitrag ist nur, mich nicht bei einem bestimmten Gedanken aufzuhalten, sondern mich dem Prozess hinzugeben. Was sich da ergibt, ist das, was Kreativität genannt wird, schöpferisches Sein.

Die Schöpfung (creatio) besteht aus einer wilden Verknüpfung der Neuronen im Gehirn mithilfe von Synapsen, die ihre Finger nach allen Seiten hin ausstrecken, alle möglichen und unmöglichen Verbindungen ausprobieren. Neue, andere, überraschende Ideen kommen mir in den Sinn. Das meiste davon ist Quatsch, aber eine kann die zündende Idee sein.

Das Gefühl der Zeitlosigkeit macht sich breit. Es könnte ewig so weitergehen. Aber es ist erneut eine Phase. Dass in Wirklichkeit dennoch Zeit vergeht, zeigt sich in der Ermüdung. Auch Anstrengungslosigkeit ermüdet. Die Kräfte lassen nach, ein Durchhänger, auf der Schaukel wie im wirklichen Leben. Dann bin ich froh, wenn ein anderer mir neuen Schwung verleiht, ich ihm oder ihr bei anderer Gelegenheit. Irgendwann tut dennoch der Hintern weh. Ausschaukeln und Absprung stehen an. Es ist die Rückkehr zur Schwerkraft, zum Alltag, zu lästigen Arbeiten, Essen machen, Wäsche waschen, Betten abziehen auf links, solche Sachen.

Das biologische Alter schaukelt, das chronologische läuft ab

Gehe ich den Alltag offensiv an, ist das weniger belastend. Frei nach Karl Valentin, der das auf den Regen bezog, freue ich mich also am besten über den Alltag, denn wenn ich mich nicht freue, ist er immer noch da. Ich kann ihn als Teil der Lebensschaukel betrachten, die zwischen gewöhnlichen und ungewöhnlichen Erfahrungen hin- und herschaukelt, und dies umso mehr, je mehr sie vorsätzlich in Schwung gehalten wird. Verstehe ich auch das Schaukeln zwischen Freude und Ärger als gewöhnliche Bewegung des Lebens, kann ich selbst das alltägliche Quantum an Ärger leichter hinnehmen.

So schaukelt das Leben von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr zwischen Erfreulichem und Unerfreulichem in Richtung Älterwerden. Zu bemerken ist, dass sogar das biologische Alter schaukelt, während das chronologische Alter einfach nur linear abläuft. Was subjektiv wahrgenommen wird, ist auch objektiv messbar.

Mal werden Menschen bei sehr schmerzlichen Erfahrungen 10 Jahre älter, mal sorgt neue Freude dafür, dass sie den vermehrten Entzündungsprozessen beim Älterwerden (Inflammaging nach einem Begriff des Immunologen Claudio Franceschi, Universität Bologna) entgehen und sich 15 Jahre jünger fühlen. Das Gefühl hat recht, das zeigt der innere Zustand der Körperzellen, festzustellen anhand von chemischen Markierungen auf der DNA, die sich verändern, nach dem Entdecker «Horvaths Uhr» genannt.

Und natürlich ist die Hoffnung gross, dass es hier noch einiges an Manipulationspotenzial gibt, wirksamer als operative Eingriffe, die nichts bringen. Einstweilen gilt: Vergessen wir das Schaukeln nicht!

Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin. 2023 erschien sein Buch: Schaukeln – Die kleine Kunst der Lebensfreude, Insel, Berlin.

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